Vor 65 Jahren Abitur und Geburtstagssekt in Berlin

Das diamantene Ehejubiläum zweier Menschen (60 Jahre verheiratet!) wird großartig gefeiert. Da gibt es in den meisten Lokalzeitungen sogar Fotos des Jubelpaares. Bürgermeister und Vertreter der Stadt- oder Dorfverwaltungen, sowie der Kirchen (wenn beide Partner getauft sind) gratulieren mit tollen Blumensträußen, guten Wünschen und „altersgerechten“ Sprüchen.

Die kleine Handvoll von Teilnehmerinnen an der Feier zu unserem 65sten Abiturjubiläum kam natürlich nicht in Zeitung. Bescheiden, wie wir nun mal sind, haben wir zu viert bei einer unserer Klassenkameradinnen in Berlin unsere Schul- und die nachfolgenden Lebensjahre Revue passieren lassen bei einem Glas Sekt. Einige aus unserer Abiturklasse waren aus Krankheitsgründen nicht dabei. Und einige andere unserer ehemaligen Klassenkameradinnen sind leider schon von uns gegangen. Viel Leid, Schmerz, Glück und Freude haben wir miteinander geteilt seit Beginn unserer Oberschulzeit 1942. Und dabei auch manches Schreckliche erlebt (ohne psychologische Betreuung danach).

1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sah unsere Klasse 12 B mit ihren zu der Zeit 18 „Damen“ eigentlich recht hoffnungsvoll in die Zukunft. Nach der Gründung der DDR wurde allerdings unsere damalige Luisenschule, eine Höhere Mädchenschule in Magdeburg, in „Käthe-Kollwitz-Schule“ umgetauft. Warum, wurde uns nie erklärt. Aber die neuen, sozialistischen Führer des Volkes hatten wohl mit der guten Königin Luise nichts mehr am Hut. Alles Preußische war direkt nach dem Krieg im Osten des geteilten Deutschlands total „out“. Erst später „entdeckte“ man, dass hinter dem Preußischen doch wohl mehr steckte, als die vom Alten Fritz eingeführten Kartoffeln.

Und zwei Schuljahre nach uns wurde dann aus der Lehranstalt für Mädchen eine mit Jungen gemischte Oberschule. Die Geschichte dieser Schule werde ich auf jeden Fall erzählen, wenn ich das Jahr 2019 noch erreiche, denn dann kann ich so beginnen: „1819, vor 200 Jahren, wurde erstmalig in Magdeburg eine Höhere Töchterschule gegründet“…Beim letzten Treffen ehemaliger Schülerinnen der Luisenschule am 28. April 1984 in der Stadthalle von Bonn-Bad Godesberg konnte ich teilnehmen. Am Treffen drei Jahre davor im Mai 1981 befand ich mich noch in Ghana. Unsere ehemalige Mathematiklehrerin Frau Dr. Ilse Schrecker schrieb damals einen Rückblick auf die Geschichte der Luisenschule, aus dem ich dann eine Zusammenfassung schreiben würde. Die Geschichte dieser Schule ist höchst interessant, und es wird nahezu unvorstellbar für heutige Frauen sein, was die Einrichtung einer Höheren Schule für Mädchen in der damaligen Zeit, also vor 200 Jahren, bedeutete.

Seit der 11. Klasse wurden wir „gesiezt“. So richtig wie Damen benommen haben wir uns allerdings nur bei einigen unserer Lehrer, vor denen wir großen Respekt hatten. Den anderen spielten wir hin und wieder schon mal einige lustige Streiche, so dachten wir wenigstens. Was die Lehrer davon hielten, haben sie uns nie gesagt. Sie haben es wohl mit Humor hingenommen. Es gab ja auch sonst im zerstörten Magdeburg nicht viel zu lachen in den Nachkriegsjahren. Zum Abitur Mitte 1950 waren wir dann nur noch 12 Mädchen. 1949 war das erste große „Fluchtjahr“ in der DDR. Viele sozialdemokratische Bekannte von uns und Freunde meiner Eltern und auch einige unserer Lehrer und Schülerinnen haben nach der Gründung der DDR mit der Einführung der SED-„Einheitsregierung“ ihre Heimat verlassen.

Am 30. März 1950 erlebten wir die Schikane dieser Regierung bei der Teilung unserer Klasse in zum Abitur „zugelassene“ und „nicht zugelassene“ Schülerinnen zum ersten Mal hautnah mit. Sechs unserer Klassenkameradinnen durften das Abitur nicht ablegen. Sie wurden einen Tage vor Beginn der schriftlichen Abiturprüfung davon in Kenntnis gesetzt. Was genau die Gründe dieser Handlung waren wurde ihnen nie mitgeteilt. Denn die Leistungen unserer Mitschülerinnen waren total in Ordnung, sonst wären sie ja auch nicht am Anfang des Schuljahres in die 12. Klasse, also die Abiturklasse, versetzt worden. Weil sie nicht in der FDJ waren und sich in der Kirche engagierten? Oder aus einem Pfarrerhaushalt kamen und daher an den lieben Gott glaubten anstatt an Stalin?

Es gab dann doch noch für unsere sechs Kameradinnen über die evangelische Kirche die Möglichkeit in Westberlin ihr Abitur abzulegen, wovon sie auch Gebrauch machten. Sie wurden dort in den Fächern Deutsch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Erdkunde, Geschichte, Englisch und sogar Russisch (das wir in der Luisenschule statt Englisch ja lernen mussten nach 1945) geprüft. Ihre Abiturzeugnisse wurden vom Magistrat der Stadt Großberlin im Bezirksamt Schöneberg. Das war allerdings nur eine einmalige Möglichkeit für Schüler und Schülerinnen aus der DDR gewesen, die auf diese Weise wenigstens zu einem Oberschulabschluss gelangten.

Wir anderen „Zugelassenen“ paukten nach dem schriftlichen Abitur für die mündlichen Prüfungen. Irgendwie war uns aber der Wind aus den Segeln genommen worden. Jetzt gab es nur noch eins für uns: die mündlichen Prüfungen so gut wie möglich zu bestehen. Und dann schleunigst weg von der Schule. Beim schriftlichen Abitur hatte ich in Deutsch von den angebotenen Auswahlthemen den Autor Emile Zola mit seinem Buch „Germinal“ dem Thema über Goethe vorgezogen. Allerdings waren meine Ansichten wohl nicht in der „richtigen“ Auslegung dargestellt; mit dem Ergebnis, dass ich nun in Deutsch mündlich geprüft wurde. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich hatte aber einen guten Schutzengel; denn prompt zu der Prüfung bekam ich heftiges Nasenbluten. Der Deutschlehrerin tat ich entsetzlich leid. Den anderen Prüfenden nicht so sehr. Aber irgendwie konnte ich mich mit blutigem Klopapier, Zellstoff aus der Schulapotheke und Taschentüchern über die Runden retten und schaffte dann sogar noch ein „gut“. Bei Mathematik danach, meinem Wahlfach, lief es dagegen hervorragend. Ich wollte gar nicht aufhören mit Zeichnen und Erklären an der Tafel und kam mit „eins“ raus. Bei „Gegenwartskunde“, einem Fach, das ich nie leiden konnte, hätte ich gerne neues Nasenbluten gehabt, konnte aber den Parteibonzen, die dieses Fach prüften auf ihre Fragen einigermaßen „richtige“ Antworten anscheinend überzeugend liefern und war dann endlich durch mit den Prüfungen.

Mit einer Klassenkameradin nach dem Abitur, Juni 1950

Mit einer Klassenkameradin nach dem Abitur, Juni 1950

Bevor uns die Abiturzeugnisse ausgehändigt wurden, gab es so etwas wie eine „Berufsberatung“. Ich hatte schon erfahren, dass ich keine Zulassung zum Studium der Architektur an der Technischen Hochschule in Dresden erhalten würde. Mein Vater, ein Bauingenieur und Wasserwirtschaftler, gehörte nun mal nicht zur Arbeiter- und Bauernklasse. Um „proletarisches Verständnis“ zu gewinnen, sollte ich Teil der Arbeiterklasse werden, das wurde mir geraten. Bloß wie das geschehen sollte, darüber wurde ich nicht informiert. Mit väterlicher Unterstützung „sprang ich ins Wasser“ und wurde Maurerlehrling. Meine Mutter war entsetzt. Ich beendete meine Lehrzeit erfolgreich nach zwei Jahren als Maurer Facharbeiterin. Danach durfte ich dann studieren. Für mein späteres Berufsleben wurden die beiden praktischen Jahre zu einer Goldgrube, auch ohne proletarisches Verständnis, das mir nie vermittelt wurde. Unsere Meister und „Mitmaurer“ waren alle gestandene und erfahrene, intelligente Handwerker, von kämpferischem Proletariat keine Spur!

Für uns, die wir zum Abitur zugelassen waren, sang unser Schulchor unter der Leitung einer Schülerin – denn unser über alles geliebter Musiklehrer Petruschke hatte 1949 auch der DDR den Rücken gekehrt – bei der offiziellen Abschlussfeier nach dem Abitur zum letzten Mal das Lied, das danach als „unpassend“ eingestuft wurde:

„Nun zu guter Letzt
Geben wir dir jetzt
Auf der Wanderung das Geleite.
Wandere mutig fort.
Und von Ort zu Ort,
Sei dir Glück und Heil zur Seite.
Wandern müssen wir auf Erden.
Unter Leiden und Beschwerden
geht bergab, bergauf
unser Lebenslauf.
Das ist unser Los auf Erden.“

Unser Abitur gefeiert haben wir dann alle zusammen in Magdeburg an einem „geheimen“ Ort in meinen Geburtstag hinein vom 17. auf den 18. Juni 1945. Da hatten unsere „Westberliner“ ihre Abiturzeugnisse zwar noch nicht in der Hand, wussten aber, dass sie alle bestanden hatten. Uns sollten die Parteibonzen und „neu“ fegenden Besen nicht die Zukunft vergraulen. In diesem Geist sind wir fast alle die ganzen Jahre miteinander verbunden geblieben, egal wohin uns das Leben auch geführt hat. In mein Gedenken heute schließe ich die Klassenkameradinnen mit ein, die schon von uns gegangen sind und auch diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein konnten bei unserer Jubiläumsfeier.

Als Architektin habe ich natürlich den Besuch in Berlin mit einer „Architektour“ zu zwei baulichen Highlights verbunden, dem Stelenfeld vom Holocaust Mahnmal und der Humboldt-Box am neu entstehenden Berliner Schloss. Gewürzt wurde dieses Sightseeing mit einer äußerst beeindruckenden Wetterdramatik, die uns abwechselnd Starkregengüsse, Sturmböen und strahlenden Sonnerschein von einem überwältigenden Wolkenhimmel bescherte. Es galt, zeitig immer passende „Unterstände“ zu finden. Mit meinem Rollator nicht so einfach, aber es klappte meistens.

Das Stelenfeld in der Nähe vom Brandenburger Tor ist riesig und erstreckt sich über 19.000 m². Wenn die Sonne schien, gab es interessante Schattenspiele auf dem durch den Regen nassen, glatten, grauen Beton der unterschiedlich hohen Stelen. Man geht durch die Gassen zwischen den Stelen auf einer wellenförmigen Oberfläche. Jede mit einer anderen sich kreuzenden Gasse bietet neue Ausblicke. Am Ende der Gassen durch die hohen Stelen erscheint der Mensch winzig. 2004 war das Mahnmal fertig, sein Architekt ist Peter Eisenmann. Diskussionen und Debatten über das Mahnmal hat es viele gegeben, bevor der Bau beginnen konnte. Das Gehen durch die Betonstelen ist beklemmend. Es regt in der Tat zum Nachdenken an. Die Gedenkstätte mit dem Museum unterhalb vom Stelenfeld konnten wir leider nicht mehr besuchen. Ein wahrer Wolkenbruch hielt uns vom Anstehen in einer langen Schlange von Besuchern zur Eingangskontrolle ab.

Kontrastreicher zum dahinterstehenden Schlossneubau kann die futuristisch anmutende Humboldt-Box nicht sein, über die seit ihrer Eröffnung 2011 sehr laut und vielfach gelästert wird. Nun steht sie aber da und erfüllt nach meiner Auffassung ihren Zweck der Information über den Schlossbau und das darin geplante Humboldt-Forum hervorragend auf 4 Etagen Ausstellungen und Veranstaltungen. Die fünfte Etage ganz oben beherbergt ein sehr schönes Café und ist auch für Empfänge geeignet. Wir ruhten uns nach allem Anschauen aus und ließen uns eine heiße Schokolade auf „Humboldtart“ servieren. Danach genossen wir von oben die Ausblicke auf den Schlossbau, den Lustgarten, den Berliner Dom, das Rote Rathaus, den Fernsehturm am Alexander Platz, den wir immer noch wegen seiner Kreuzesspiegelung „St. Ulbricht“ nennen, und auf das unten an der Spree ausgestellte nachgebaute Stück „alte“ (neue) Sandsteinfassade. An drei Seiten vom Schloss soll so vor den Betonwänden die Originalfassade wieder entstehen. Für uns war das ein lohnender Abschluss unserer Tour und beendete unsere Jubiläumsfeier.

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